Mir tut er nicht leid. Ich bedaure keine Sekunde, dass er tot ist. Mehr noch, ich fühle mich erleichtert, ich fühle sogar eine gewisse Genugtuung über seinen Tod. Bin ich jetzt ein schlechter Mensch? Aber froh bin ich nicht. Ich kann keine Freude beim Tod dieses Menschen empfinden.
Vergeltung und Rache sind zutiefst menschliche Gefühle. Ich habe vollstes Verständnis für jubelnde Feuerwehrleute vor Ground Zero – denn sie haben den feigen Anschlag, für den Osama Bin Laden meiner Überzeugung nach verantwortlich ist, hautnah miterleben müssen. Auch für feiernde Manhattaner habe ich Verständnis, denn praktisch alle dürften Menschen kennen, die Angehörige oder Freunde in den Twin Towers verloren haben, oder sind selbst betroffen. Wenn ich in dieser Art beteiligt gewesen wäre, würde ich vermutlich auch ein Fass aufmachen, wenn es den Killer zerlegt.
Mir fällt es schwer, die USA für die Ermordung Bin Ladens zu verurteilen. Man muss sich vor Augen halten, was das Attentat vom 11. September mit der Seele der Amerikaner gemacht hat – es wurde eine tiefe Wunde geschlagen, die Amerikaner fühlten sich quasi körperlich verletzt und verunsichert. Dieser grausame Anschlag hat die ganze Nation tiefgreifend verändert (und das dürfte auch Bin Laden bei der Planung durchaus bewusst gewesen sein, wenn er das nicht sogar erhofft und beabsichtigt hatte). Wer derartig tiefgreifend verletzt und gedemütigt wurde, für den sollte man Verständnis aufbringen, wenn er sich über ausgeübte Rache und Vergeltung freut. Erahnen kann dieses Gefühl vielleicht derjenige, der sich an die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers im „deutschen Herbst“ 1977 erinnern kann, als nach der brutalen Entführung, bei der alle Fahrer und Polizisten von Kugeln durchsiebt wurden, später der Arbeitgeberpräsident tagelang in seinen gestelzten Worten um sein Leben bat, und schließlich doch ermordet wurde.
Die Todesstrafe gehört zum Repertoire der amerikanischen Justiz. Auch vor US-Gerichten wäre Bin Laden zum Tode verurteilt worden. Er selbst wird sich im Klaren gewesen sein, dass ihm Vergeltung dieser Art droht, und ein Märtyrertod wird für ihn womöglich sogar reizvoll gewesen sein. Für die unmittelbar beteiligten Parteien ist dieses Ende des Al Qaida-Gründers daher vermutlich moralisch in Ordnung.
Sehr problematisch sehe ich aber die Durchführung der Tötung. Auch im amerikanischen Rechtssystem hätte die Tötung nur durch ein Urteil eines Richters nach einem Gerichtsverfahren angeordnet und durchgeführt werden dürfen – und nicht von einem Navy Seal-Kommandoführer oder vom amerikanischen Präsidenten. Die korrekte Vorgehensweise wäre also gewesen, zumindest seine Festnahme zu versuchen. Dass die Aktion von vorneherein als Tötung angelegt war stößt mich ab. Rechtsstaatlich gedeckt ist sie nicht. Es handelt sich um einen reinen Racheakt, ausserhalb des Völkerrechts und des Menschenrechts – er wird weder den Krieg noch den Terror beenden – aber wo kein Kläger, da kein Richter.
Die Bündnispartner haben den USA nach dem 11. September ihre volle Unterstützung versprochen – ich akzeptiere daher und kann es nachvollziehen, dass man die US-Regierung für diese Kommandoaktion öffentlich nicht kritisiert. Ich würde mir wünschen, dass man diesen Vorfall als Anlass nimmt, die Einschränkungen der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit, die in den letzten Jahren zugenommen haben, jetzt wieder abzubauen. Insbesondere Guantanamo sollte zügig geschlossen werden und die Gefangenen freigelassen oder vor ordentlichen Gerichten verurteilt werden.
Angeekelt haben mich aber Äußerungen aus unseren „christlichen“ Regierungsparteien. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte wörtlich: „Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten“. Hat Frau Merkel etwa Angehörige im Tower verloren? Ist es für einen Christen angemessen, sich über die Tötung eines Menschen zu freuen? Wie sieht es mit dem 5.Gebot der Bibel aus?
In unserem Rechtssystem gibt es nicht mal die Todesstrafe, kann man daher eine geplante Ermordung begrüßen? Sollte man als Regierungschef grundrechtswidriges Vorgehen gutheißen?
Dass sie keine unmittelbaren Vorwürfe an die USA äußert, ist vollkommen in Ordnung – aber eine neutralere Form hätte es schon sein dürfen.
Hochachtung in diesem Zusammenhang für den Vatikan. Dessen Sprecher Federico Lombardi sagte, dass der Tod eines Menschen für einen Christen „niemals Grund zur Freude“ sein könne. Da darf sich unsere Pfarrerstochter eine Scheibe von abschneiden.
Auch CSU-Chef Horst Seehofer bezeichnet die Tötung als „Erfolg der Gerechtigkeit“ – er offenbart damit eine sehr archaische Vorstellung von Gerechtigkeit, die mir Angst macht. Vergeltung, Rache – ja. Aber Gerechtigkeit? Von einem Regierungschef würde ich mir eine differenziertere Betrachtung wünschen.