Enormer Presseandrang auf dem Bundesparteitag der Piraten. Selbst der letzte Pressevertreter hat verstanden, dass es keine Delegiertenkonferenz ist, sondern dass jedes Mitglied abstimmen darf. Zwar wird vereinzelt noch behauptet, dass dies der erste Bundesparteitag der Piraten sei (es ist der neunte – nicht mal der erste in diesem Jahr), aber das ist noch lässlich. Dass die Piraten mittlerweile ernst genommen werden, steht jedenfalls ausser Frage.
Während andere Parteien wie die Linken, die SPD und die Grünen – aufgescheucht von den Piraten – sich mit Netzpolitik beschäftigen und hier verzweifelt versuchen, Profil zu gewinnen, spielt klassische Netzpolitik auf dem Parteitag der Piraten fast keine Rolle. Wir beschäftigen uns ausführlich mit Sozialpolitik, mit Europa, Wirtschaft, Gesundheit und Verkehr. Niemand kann jetzt mehr behaupten, die Piraten seien monothematisch.
Demokratie macht Arbeit, aber auch Spaß. Über fast jeden Antrag wird kontrovers diskutiert. Selbst Anträge mit großer Akzeptanz in der Basis haben eine lange Rednerliste. Meist liegen mehrere Anträge vor, die teils konkurrieren, teils sich aber einfach nur wiederholen. Leitanträge der Parteispitze existieren nicht. Das dauert, ist manchmal ermüdend – aber genau so wollen wir das, die Piraten wollen Politik von unten, Politik zum Mitmachen, echte Demokratie eben. Und dann muss man Menschen auch reden und machen lassen.
Dass es sich lohnt, beweisen einige der angenommenen Anträge. Es finden sich echte Perlen unter den Anträgen, klare Kanten, wahre Aussagen, auf die ich mich gefreut habe und auf die ich stolz bin.
Die Piraten positionieren sich ganz klar gegen Rechts, gegen Rassismus und Ausgrenzung. Der Aufruf und die Teilnahme an Demonstrationen gegen Nazis sind ohne Beschluss möglich und stets im Sinne der Partei. Die bereits in der Satzung festgelegte Ablehnung jedweder totalitärer, faschistischer oder diktatorischer Bestrebungen wird nochmals betont. Gegen Rassismus und kulturell begründete Diskriminierung wenden wir uns im Parteiprogramm nochmals explizit.
Nach kontroverser Debatte und sehr knapper Abstimmung entschließen sich die Piraten für die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Dabei ist es uns klar, dass das nur ein Fernziel sein kann – in der Zwischenzeit sollen unsoziale Auswüchse des Hartz IV-Systems abgeschafft und ein Mindestlohn eingeführt werden. Zeitarbeit soll eingedämmt werden. Ein konkretes Umsetzungsmodell für das BGE haben wir noch nicht beschlossen.
Große Zustimmung erhalten beide Anträge zum Thema Drogen- und Suchtpolitik. Das System von Prohibition und Kriminalisierung des Konsums von Drogen halten wir für gescheitert, es soll beendet werden. Die willkürliche Aufteilung der Drogen in illegale und legale stellen wir in Frage, wir sind für eine Nutzung in Forschung und Therapie. Dabei ist es uns klar, dass wir in diesem Punkt besonders viel Häme ernten werden – wir halten es aber für wichtig genug, hier nicht feige oder populistisch zu sein.
Die Piratenpartei spricht sich pro Europa aus. Ein Antrag, den Europäischen Stabilitätsfond ESM abzulehnen, wird kontrovers diskutiert und dann aber mehrheitlich abgelehnt – die Piraten wollen sich nicht populistischen antieuropäischen Bestrebungen anschließen. Zudem ist uns nicht klar, was eine bessere Alternative zum ESM ist – und wenn man von etwas keine Ahnung hat, sollte man womöglich wirklich mal die Klappe halten – das finde ich persönlich sehr sympathisch und nachvollziehbar. Dennoch kritisieren wir den ESM-Vertrag, da er nicht demokratisch zustande gekommen ist und demokratisch nicht legitimiert ist.
Sehr spannend verlief die Diskussion zum Thema „Urheberrecht“ – mithin das einzige Thema des Parteitages, das zu den Kernthemen der Piraten gezählt wird. Hier standen sich zwei konkurrierende Anträge gegenüber – einer der beiden wollte das Urheberrecht durch eine radikale Verkürzung der Schutzfristen verändern. Knackig formuliert, und zweisprachig in Form eines Gesetzesentwurfs auf europäischer Ebene vorliegend, hätte er vielleicht am ehesten den Erwartungen an die Piratenpartei entsprochen. Hier regte sich aber der meiste Widerstand von Autoren-, Künstler- und Produzentenseite.
Der andere Antrag war deutlich weicher gestaltet. Die Schutzfristen werden fast gar nicht angetastet. Allerdings werden die Nutzungsmöglichkeiten, die innerhalb der Schutzfristen erlaubt sind, deutlich zugunsten von Privatnutzung, Forschung und Bildung, Mash-Up-Kunst, selbst für Filesharing erweitert. Die Position der Urheber wird sogar gestärkt, insbesondere durch Einschränkung der Macht von Verwertergesellschaften.
Der Parteitag hat sich mit großer Mehrheit für den zweiten Antrag entschieden. Ich halte das für eine sehr begrüßenswerte Entscheidung, können wir so doch einen größtmöglichen Ausgleich zwischen Autoren und Künstlern einerseits, und Nutzern digitaler Werke andererseits herstellen. Mir persönlich sind Dauern von Schutzfristen doch vollkommen egal, wenn ich jederzeit die für mich genehme, private Nutzung eines Werkes vornehmen kann. Auch eine verkürzte Schutzfrist hingegen nützt mir nichts, wenn ich während deren Dauer das von mir erworbene Werk nicht richtig oder vollständig nutzen kann.
Dabei ist dieser Antrag so wohlbegründet und wohlformuliert, dass sich das just beschlossene Programm der Grünen mit der Kulturflatrate wie reiner Sozialismus liest. Wir lassen den Urhebern von Werken sowie den Nutzern dieser Werke deutlich mehr Freiheit.
Noch ein kurzes Wort zur Location: Offenbach ist trostlos, die Stadthalle hässlich. Die AG Schnittchen zu Recht enttäuscht, das Apfelsinengate hat aber nicht stattgefunden. Vielleicht schaffen wir bei der nächsten Veranstaltung ein etwas angenehmeres Umfeld.
Alles in Allem bin ich außerordentlich zufrieden. Ohne besondere Erwartungen angereist, und mit der Befürchtung kommend, die Veranstaltung würde wegen des Mitgliederwachstums und Besucheransturms in Chaos versinken, hatten wir einen schönen und produktiven Parteitag, und haben einige Beschlüsse erreicht, auf die ich stolz bin.