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LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/8352

 

08.04.2015

 

 

 

 

Antwort

 

der Landesregierung

auf die Kleine Anfrage 3211 vom 9. März 2015

des Abgeordneten Daniel Schwerd   PIRATEN

Drucksache 16/8137

 

 

Netzneutralität: Taliban-ähnliche Entwicklung?

 

 

Die Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien hat die Kleine Anfrage 3211 mit Schreiben vom 2. April 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerpräsidentin sowie allen übrigen Mitgliedern der Landesregierung beantwortet.

 

 

Vorbemerkung der Kleinen Anfrage

 

"Wenn man in die falsche Richtung läuft, hat es keinen Zweck, das Tempo zu erhöhen."

Birgit Breuel, dt. Politikerin u. Managerin, bis 1995 Präsidentin der Treuhandanstalt

 

In einer Diskussionsrunde der Reihe „BMF im Dialog: Wachstumstreiber Digitalisierung" des Bundesministerium für Finanzen sprach der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft Günther Oettinger über Netzneutralität, Telemedizin und intelligente Verkehrssicherheitssysteme. Er stellte darin die These auf, dass es zugunsten der Telemedizin und der Verkehrssicherheitssysteme geboten sei, auf Netzneutralität zu verzichten, er deutete an, dass es Leben gefährde, wenn solche Systeme nicht mit Vorrang im Internet bedient werden.[1]

 

Dem Fragesteller ist unverständlich, wie man Telemedizin und Verkehrssicherheitssysteme gestalten will, die auf eine permanente Internetverbindung angewiesen sind, wo es doch bekannt ist, das Internet mobil nicht überall zur Verfügung stehen kann, und man mit Verbindungsabbrüchen auch im stationären Internet rechnen muss. Unverständlich ist auch, wie eine Aufhebung der Netzneutralität dieses Problem lösen soll.

 

 

 

 

Vorbemerkung der Landesregierung

 

In der Diskussion über Netzneutralität ist es sachgerecht, die verwendeten Begriffe und Kategorien zu definieren. Diese Antwort verwendet die Begriffe Netzneutralität, Internetzugangsdienst und Spezialdienst nach den Definitionen im vom Europäischen Parlament (EP) am 3. April 2014 angenommenen Text zu dem Vorschlag für eine Verordnung über Maßnahmen zum europäischen Binnenmarkt der elektronischen Kommunikation:

·         Der Internetzugangsdienst ist ein öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienst, der unabhängig von der verwendeten Netztechnologie und dem verwendeten Endgerät im Einklang mit dem Grundsatz der Netzneutralität eine Anbindung an das Internet und somit Verbindungen zwischen nahezu allen Abschlusspunkten des Internets bietet.

·         Netzneutralität bezeichnet den Grundsatz, nach dem der gesamte Internetverkehr ohne Diskriminierung, Einschränkung oder Beeinträchtigung und unabhängig von Absender, Empfänger, Art, Inhalt, Gerät, Dienst oder Anwendung gleich behandelt wird;

·         Spezialdienst ist ein elektronischer Kommunikationsdienst, der für spezielle Inhalte, Anwendungen oder andere Dienste oder eine Kombination dieser Angebote optimiert ist, über logisch getrennte Kapazitäten und mit strenger Zugangskontrolle erbracht wird, Funktionen anbietet, die durchgehend verbesserte Qualitätsmerkmale erfordern, und als Substitut für Internetzugangsdienst weder vermarktet wird noch genutzt werden kann.

 

Im Rahmen der Antworten auf diese Kleine Anfrage ist eine Einordnung von Angeboten in die Kategorien Spezialdienst oder Internetzugangsdienst nicht abschließend möglich, ebenso wenig eine technische Analyse der Angebote zur Bewertung, ob ihr einwandfreies Funktionieren davon abhängig ist, dass sie als Spezialdienst angeboten werden.

Die Antworten geben eine erste Einschätzung nach aktuell vorliegendem Sachstand, ohne technische und juristische Detailanalysen, welche bekannten Angebote unter die vom EP definierten Kriterien für Spezialdienste fallen könnten.

In der detaillierten Abgrenzung von Spezialdiensten und dem Internetzugangsdienst werden auch bei klarer Definition im Sinne des EP Regulierungsbehörden eine wichtige Funktion erfüllen und sicherstellen müssen, dass Dienste bereitgestellt werden, die diskriminierungsfreie Internetzugangsdienste von hoher Qualität ermöglichen und nicht durch Spezialdienste eingeschränkt sind.

Die Landesregierung vertritt die Auffassung, dass Spezialdienste und Netzneutralität im Internetzugangsdienst koexistieren können und hat daher die im Bundesratsbeschluss 689/13 vom 29.11.2013 vertretene Auffassung unterstützt, dass jegliche Abweichungen vom Grundsatz der Netzneutralität nur auf Grund eines abschließenden Katalogs von eng definierten Ausnahmen mit objektiv überprüfbaren Kriterien zulässig sein sollen.

 

 

1.    Welche konkreten Produkte, Anwendungen bzw. Forschungen aus dem Bereich Telemedizin sind der Landesregierung bekannt, deren verlässliches Funktionieren von einem Echtzeit-Internetzugang sowie der Abwesenheit von Netzneutralität abhängig ist? Nennen Sie für jeden einzelnen Fall jeweiliges Unternehmen bzw. Institut oder Krankenhaus und Anwendungsbereich. Bitte nennen Sie nur konkrete Produkte, Anwendungen und Forschungen, keine Cluster oder generelle Debatten.

 

In der zur Verfügung stehenden Zeit für die Beantwortung der Kleinen Anfrage ist eine belastbare und erschöpfende Antwort (s.o.) nicht möglich. Soweit das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter aktuell Projekte zu Telemedizinanwendungen fördert, nutzen diese gesicherte Netze, die über herkömmliche Internetverbindungen realisiert werden, bzw. planen diese Projekte eine entsprechende Nutzung (z.B. VPN).

Die auszutauschenden Daten dürften nach derzeitiger fachlicher Einschätzung häufig nicht so zeitkritisch sein, dass sie unter Aufgabe des Grundsatzes der Netzneutralität zwingend priorisiert werden müssten. Für den Fall, dass bei kritischen Anwendungen Daten in Echtzeit benötigt werden sollten (z.B. Tele-Operationen), wären im Übrigen eher dedizierte Netze (z.B. Standleitungen) geeignet, um Ausfallsicherheit zu gewährleisten.

 

 

2.    Welche konkreten Produkte, Anwendungen bzw. Forschungen aus dem Bereich intelligenter Verkehrssicherheit und Mobilität (wie etwa Kollisionswarner) sind der Landesregierung bekannt, deren verlässliches Funktionieren von einem Echtzeit-Internetzugang sowie der Abwesenheit von Netzneutralität abhängig ist? Nennen Sie für jeden einzelnen Fall jeweiliges Unternehmen bzw. Institut und Anwendungsbereich. Bitte nennen Sie nur konkrete Produkte, Anwendungen und Forschungen, keine Cluster oder generelle Debatten.

 

Der genannte Kollisionswarner (wahrscheinlich meint der Fragesteller ein Abstandshalte- und Notbremssystem) ist kein internetbasiertes System, sondern funktioniert über Radar oder Kamera. Kein in ein Fahrzeug eingebautes System, das irgendeinen direkten Eingriff in den Betrieb des Fahrzeugs hätte und damit von einer (nationalen oder EU-weiten) Fahrzeuggenehmigung umfasst sein müsste, ist vom Internet abhängig.

 

 

3.    Sind der Landesregierung sonstige Produkte bekannt, deren verlässliches Funktionieren von einem Echtzeit-Internetzugang sowie der Abwesenheit von Netzneutralität abhängig ist? Nennen Sie für jeden einzelnen Fall das Produkt, jeweiliges Unternehmen bzw. Institut und Anwendungsbereich. Bitte nennen Sie nur konkrete Produkte mit deren (Marken-)Bezeichnungen, keine Cluster oder generelle Debatten.

 

Einige Breitbandversorger betreiben eigene IPTV-Angebote offenbar im Multicast in logischen Teilnetzen innerhalb ihrer physischen Netze. Das geht aus Beschreibungen beispielsweise des Angebots T-Entertain hervor (http://www.heise.de/ct/artikel/Der-fuenfte-Weg-1167899.html).

Solche Angebote könnten Spezialdienste nach Definition des EP sein. Ein Argument dafür wäre es, wenn sie mit strenger Zugangskontrolle erbracht werden und wenn Live-Fernsehen verbesserte Qualitätsmerkmale gegenüber Mediatheken und On-Demand-Angeboten im freien Internetzugangsdienst erfordert. Die Deutsche Telekom AG unterliegt mit dem Angebot Entertain der Plattformregulierung nach § 2 Abs. 2 Nr. 13 Rundfunkstaatsvertrag.

Technisch ist es möglich, zum Teil auch über dieselben physischen Übertragungswege unterschiedliche, logisch voneinander getrennte Netze zu betreiben. In eigenen Netzen werden zum Beispiel über MPLS Daten verbindungsorientiert übertragen. Solche Dienste werden etwa genutzt, um Unternehmensnetze über mehrere Standorte hinweg vom öffentlichen Internet getrennt zu knüpfen, zum Beispiel für Krankenhäuser (http://intelligente-netze.telekom.de/umn/uti/1003268_1/blobBinary/ 4-Pager_Kliniken_Portfolio_DE_ty_update.pdf) oder Firmen (http://dreisechsnull.telekom.de/private-cloud-bei-lindner-gut-aufgehoben-in-der-cloud/).

Solche Anwendungen können Spezialdienste nach der Definition des EP sein. Ein Argument dafür wäre es, wenn solche Anwendungen verbesserte Qualitätsmerkmale erfordern und nicht als Substitut für einen Internetzugangsdienst vermarktet werden.

Ein strategisch besonders wichtiger Innovationsbereich der Informations- und Kommunikationstechnik sind Echtzeitanwendungen und das Internet der Dinge. In diesem Fall wird die Kommunikationsinfrastruktur insbesondere Trends wie Industrie 4.0, vernetzte Mobilität, das Smart Grid in der Elektrizitätsversorgung, Bildung oder innovative medizintechnische Anwendungen prägen und ermöglichen.

Voraussetzung sind deutlich geringere Reaktionszeiten von Ende-zu-Ende, d.h. von einer Eingabe an einem Sensor/Eingabegerät bis zur Reaktion am Aktor an einem anderen Ort (z. B. ein Bildschirm oder Roboterarm).

Deutschland kann diese Entwicklung vorantreiben und die führenden Positionen im Automobil- und Maschinenbau, in der Fabrikautomation oder der Medizintechnik sichern und neue Innovationsfelder erschließen.

Die Ausgestaltung der Netzneutralität ist eine ganz entscheidende Frage bei der Ermöglichung der Anwendung solcher Techniken. Der VDE fordert daher für das Smart Grid ein eigenes Kommunikationsnetz, das unabhängig vom öffentlichen Internet ist.

Grundsätzlich muss man zwischen einem selteneren Störfallmanagement und dem Normalbetrieb unterscheiden, denn dies liefert eine Begründung für differenzierte und dynamisch anpassbare Priorisierungsmechanismen. Im Normalbetrieb können Statusdaten im Hintergrund übertragen werden, während im Störfall eine Bevorrechtigung zwingend notwendig ist.

Man kann nun entweder jeweils ein eigenes Netz für solche Anwendungen schaffen oder eine gemeinsame Infrastruktur flexibel nutzen, mit der Möglichkeit der Bevorrechtigung, wenn es notwendig ist. Eine solche gemeinsam nutzbare Infrastruktur stellt ein weiter entwickeltes Internet mit Qualitätsgarantien dar.

Anwendungen, die Spezialdienste nach der Definition des EP sein könnten:

-          Steuerung von Hochgeschwindigkeitszügen (in der Vergangenheit wurden für diese Steuerungszwecke eigene Netze etabliert, z.B. das GSM-Rail-Netz, das die Steuerung des Bahnverkehrs ermöglicht. Es liegt auf der Hand, dass sicherheitsrelevante Informationen, die zur sicheren Steuerung eines Hochgeschwindigkeitszugs notwendig sind, hochpriorisiert übertragen werden müssen)

-          Smart Grid: Synchronisierung von Kraftwerksgeneratoren (50 Hz-Problematik), Schalten von Schutzrelais im Millisekundenbereich

-          Industrie 4.0: Echtzeitsynchronisierung von Systemen mit verteilten Sensoren/Aktoren an verschiedenen Standorten

 

4.    Wie bewertet die Landesregierung lebenswichtige bzw. lebensbedrohliche Systeme (wie zum Beispiel Tele-Operationen im Organbereich bzw. Kollisionswarner im Straßenverkehr), deren einwandfreies Funktionieren von einem Echtzeit-Internetzugang sowie der Abwesenheit von Netzneutralität abhängig ist?

 

Eine allgemeine, pauschale Bewertung aller existierenden oder denkbaren Systeme ist nicht sachgerecht. Gleichwohl ist es evident, dass beispielswiese autonome Fahrzeuge, die bei schlechtem Empfang im Tunnel, auf dem Land oder wegen eines gestörten Mobilfunkmasts nicht funktionieren, eine Gefahr darstellen würden.

Wenn derartige Anwendungen logisch vom Internetzugang getrennt als Spezialdienste im Sinne des EP angeboten werden, kann Netzneutralität gewahrt werden.

Die bisherige Entwicklung in den Niederlanden, wo Netzneutralität seit 2012 gesetzlich vorgeschrieben ist, zeigt, dass dort nicht Spezialdienste aus den Bereichen Verkehrssicherung und Mobilität oder Telemedizin im Hinblick auf die Regulierung problematisiert wurden, sondern vielmehr die Praktiken einiger Versorger, einige Onlinedienste im freien Internet für Privatkunden auf bestimmten Zugangswegen zu diskriminieren (https://www.acm.nl/nl/publicaties/publicatie/13762/Boetes-KPN-en-Vodafone-voor-overtreden-regels-netneutraliteit/).

Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen.

 

 

 

5.    Welche Schritte ergreift die Landesregierung, um Netzneutralität auf Bundes-, Landes- und Europaebene im Sinne des Landtagsbeschlusses „Für echtes Netz: Netzneutralität dauerhaft gewährleisten und gesetzlich festschreiben!" mit der Dokumentennummer 16/5777 voranzutreiben?

 

Die Landesregierung verfolgt die Entwicklungen auf europäischer und auf Bundesebene und nutzt geeignete Wege, um die zum Beispiel im Bundesratsbeschluss 689/13 vom 29.11.2013 vertretenen Auffassungen in die aktuellen Verhandlungen einzubringen.

Die Landesregierung ist der Auffassung, dass jeder Regelung der Netzneutralität die anerkannte Definition zugrunde zu legen ist.

Jegliche Abweichungen von diesem Grundsatz sollten nach Auffassung des Bundesrates nur auf Grund eines abschließenden Katalogs von eng definierten Ausnahmen mit objektiv überprüfbaren Kriterien zulässig sein. Die Landesregierung hat im Bundesrat eine Initiative ergriffen, um die Position des Bundesrates an die Kommission zu übermitteln (Drucksache 104/15).

Die Landesregierung verfolgt die rechtliche und technische Entwicklung in anderen Staaten und die Entwicklung des Markts für IP-Zusammen-schaltung.

Die Landesregierung beabsichtigt, im Rahmen eines wissenschaftlichen Gutachtens Modellverschläge für effektive Vielfaltssicherung, die Zusammenarbeit und Abgrenzung von Bund und Ländern bei der Aufsicht über die für Medienvielfalt relevanten Veränderungen in IP-basierten Netzen erarbeiten zu lassen.

Das Landesmediengesetz (LMG) legt fest, dass die Landesanstalt für Medien

·         sich im Hinblick auf die Entwicklung von Anforderungen an Netzneutralität für eine enge Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Stellen einsetzt

·         Maßnahmen zur Sicherstellung der Netzneutralität treffen kann

·         wissenschaftliche Untersuchungen zu für die Umsetzung der Ziele des § 2 LMG relevanten Fragen der Netzneutralität durchführen kann.

 

 

 



[1] https://www.youtube.com/watch?v=_ZaaSC7Eg4s


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