LANDTAG
NORDRHEIN-WESTFALEN
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Drucksache 16/14670 |
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28.03.2017 |
Antwort
der Landesregierung
auf die Kleine Anfrage 5631 vom 22. Februar 2017
des Abgeordneten Daniel Schwerd FRAKTIONSLOS
Wie arbeitet NRW die „freiwillige“ Kastration homosexueller Männer in den Jahren 1946 bis 1994 auf?
Vorbemerkung der Kleinen Anfrage
Am 15. August 1969 wurde das „Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden“ ausgefertigt, in dem unter anderem 'freiwillige' Kastrationen erlaubt wurden, „wenn bei dem Betroffenen ein abnormer Geschlechtstrieb gegeben ist, der nach seiner Persönlichkeit und Lebensführung die Begehung rechtswidriger Taten“ erwarten lasse. Als mögliche Voraussetzung für den Eingriff wurde auch § 175, Abs. 1 Nr. 1 StGB aufgeführt.
Zuvor konnten zudem nach dem 1935 erlassenen § 14, Abs. 2 des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sogenannte 'freiwillige Entmannungen' durchgeführt werden, wenn von den Betroffenen Straftaten nach § 175 StGB zu erwarten waren. Ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. Dezember 1963 bestätigte dieses Verfahren mit geringfügigen Änderungen.
Zur Aufarbeitung der Schwulenverfolgung in Nordrhein-Westfalen ist es erforderlich, zu prüfen, in wie vielen Fällen Männer, denen Straftaten nach 175 StGB vorgeworfen worden waren oder denen Strafverfahren nach §175 StGB drohten, sich aus Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung einer 'freiwilligen' Kastration unterzogen haben.
Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 5631 mit Schreiben vom 28. März 2017 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport und der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortet.
1. Wie viele Fälle 'freiwilliger' Kastration hat es in Nordrhein-Westfalen zwischen 1946 und 1994 gegeben (bitte einzeln unter Nennung der jeweiligen gesetzlichen Grundlage und der seinerzeit jeweils genannten 'Voraussetzung')?
Der Landesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. Eine statistische Erfassung von Fallzahlen ist nicht erfolgt.
Die gerichtliche und staatsanwaltschaftliche Praxis des Landes hat übereinstimmend berichtet, dass sie im Sinne der Vorbemerkung der Kleinen Anfrage einschlägige Fälle in der Zeit zwischen 1946 und 1994 nicht hat feststellen können, wobei ihr eine Ermittlung und Auswertung etwaiger aus dieser Zeit noch vorhandener Verfahrensakten von Hand in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich sei.
Der Leiter des Justizvollzugskrankenhauses hat kurzfristig auch mehrere im Ruhestand befindliche frühere ärztliche Direktoren der Einrichtung sowie einen früheren Vertragsarzt in der Fachrichtung Urologie beteiligt. Nach Auskunft aller Befragten hat es seit Inbetriebnahme des Justizvollzugskrankenhauses im Jahr 1986 dort keine Fälle freiwilliger Kastration gegeben. Auch in dem seit 2014 geführten Krankenhaus-Informationssystem (KIS) sind keine entsprechenden Fälle gefunden worden.
In den Beständen des Landesarchivs sind ebenfalls keine statistischen Erhebungen zu Fällen freiwilliger Kastration vorhanden. Eine Auswertung des in Betracht kommenden Aktenbestandes auf möglicherweise einschlägige Fälle ist auch hier in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
2. Wie will die Landesregierung NRW zu einer Aufarbeitung des Themenbereichs 'freiwillige' Kastration im Rahmen der Aufarbeitung der Schwulenverfolgung in NRW beitragen?
3. Welche Möglichkeiten für Entschädigungen bestehen für Männer, die sich aufgrund einer (drohenden) Strafverfolgung nach §175 StGB einer 'freiwilligen' Kastration unterzogen haben?
Die Fragen 2 und 3 werden gemeinsam beantwortet.
Die Landesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage 5356 (Landtags-Drucksache 16/13813) betont, dass sie sich auf Bundesebene mit Nachdruck für eine Rehabilitierung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten gemäß §§ 175, 175a Nummer 3 und 4 des Strafgesetzbuches und gemäß § 151 des Strafgesetzbuches der DDR verurteilten Menschen einsetzt und auf eine gründliche Aufarbeitung sowie eine angemessene - derzeit gesetzlich nicht vorgesehene - Wiedergutmachung hinwirkt, deren Finanzierung dem Bund obliegt. In einem entsprechenden Eckpunktepapier hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz u. a. eine Kollektiventschädigung, etwa in Form einer Stärkung der Arbeit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, in Aussicht gestellt, deren Stiftungszweck gerade auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Strafverfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen umfasst. Allerdings nimmt in den erwähnten Zusammenhängen die Frage einer Rehabilitierung wegen freiwilliger Kastrationen derzeit keinen Raum ein.
4. Welche während der Zeit des Nationalsozialismus mit der Kastration homosexueller Männer befassten Mediziner wurden nach 1945 im öffentlichen Dienst in NRW weiter als Mediziner beschäftigt?
Über nach dem Jahr 1945 im öffentlichen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen tätig gewordene Mediziner, die während der Zeit des Nationalsozialismus mit der Kastration homosexueller Männer befasst waren, liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Hinsichtlich des Justizvollzuges ist insoweit anzumerken, dass die Erstellung elektronischer Vorgangsregister erst im Zuge der Ausstattung mit Informationstechnologie erfolgt ist. Eine Durchsicht aller nach Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Neuaufbau der Landesjustizvollzugsverwaltung papiergebundenen angelegten Register und aller - gegebenenfalls auch bei dem Hauptstaatsarchiv eingelagerten - Sach- oder Personalakten ist wegen des damit verbundenen erheblichen Aufwandes in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu leisten.
5. Welche Behörden und Einrichtungen des Landes NRW bzw. innerhalb NRWs waren im Einzelnen an der Planung, Genehmigung und Durchführung 'freiwilliger' Kastrationen nach 1946 beteiligt? Nennen Sie für jede beteiligte Behörde den Einsatzbereich.
Das Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15. August 1969 (KastrG) sieht die Beteiligung von Gutachterstellen und Betreuungsgerichten vor. Im Einzelnen bedarf es nach § 5 KastrG der Bestätigung einer Gutachterstelle. Hiervon ist in Nordrhein-Westfalen je eine bei den Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe eingerichtet. Nach § 6 KastrG muss das Betreuungsgericht in den Fällen, in denen eine Kastration bei einer Person durchgeführt werden soll, die unfähig ist, die Reichweite dieser Maßnahme zu erkennen, die für den Eingriff erforderliche Einwilligung des Betreuers nach persönlicher Anhörung des Betroffenen genehmigen.
Nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, das nach 1945 zunächst fortgalt, erfolgten die Anordnungen einer Unfruchtbarmachung durch die ehemaligen Erbgesundheitsgerichte, deren Beschlüsse durch das Gesetz zur Aufhebung von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998 aufgehoben wurden. Bei Personen unter 18 Jahren sowie im Falle der Geschäftsunfähigkeit oder Entmündigung wegen Geistesschwäche des Betroffenen bedurfte es der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts.