„Ein Haus ist eine Arche, um der Flut zu entrinnen.“ – Katherine Mansfield
Ich habe gestern den folgenden Antrag zur Befassung im Landtag Nordrhein-Westfalens eingereicht:
Grundrecht auf menschenwürdige Wohnverhältnisse für alle, auch für Geflüchtete: Notfalls ungenutzten Wohnraum in Anspruch nehmen!
I. Herausforderung durch eine große Zahl geflüchteter Menschen
Der große Zustrom von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten stellt unser Land und die Kommunen vor große Herausforderungen. Zahllose Menschen fliehen derzeit vor existentieller Not, Gewalt und Vertreibung aus ihrer Heimat zu uns in der Hoffnung auf Schutz, Frieden und eine bessere Zukunft. Sie mit offenen Armen zu empfangen, ihnen Obdach, Versorgung und eine Perspektive zu schaffen gebietet uns die Menschlichkeit und ist uns durch die Verfassung bestimmte Aufgabe. Für diese humanitäre Pflicht gibt es keine Obergrenzen.
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Zahl schutzsuchender Menschen in der nächsten Zeit zurückgeht, vielmehr müssen wir erwarten, dass Flucht und Vertreibung anhalten werden, solange die Ursachen dafür bestehen. Jeder Antrag auf Asyl muss auf den Einzelfall bezogen geprüft und bewertet werden. Die Verpflichtung zur Gewährleistung von Unterkunft und Versorgung der Geflüchteten obliegt derweil den Ländern und Kommunen.
Die Landesregierung hat in ihren Antworten auf die kleinen Anfragen 3911, 3912 und 3913 des Unterzeichners betont, zahlreiche geeignete und durchaus auch kreative Maßnahmen zur Beschaffung von Unterkünften zur Unterbringung dieser Menschen zu ergreifen. So wurden dankenswerterweise zahlreiche ungenutzte Landesimmobilien bereits umgewidmet oder werden dafür vorbereitet. Dennoch ist zu befürchten, dass bald Flüchtlinge obdachlos sein werden, weiterhin in ungeeigneten Massenunterkünften, oder nicht winterfesten, schwer heizbaren Zelten oder Hallen verbleiben müssen, da keine Reserven mehr vorhanden sind. Bestehende Notunterkünfte sind längst überfüllt, und neue Standorte und Gebäude immer schwerer zu finden. Selbst Wohncontainer für Notunterbringung sind vielerorts ausverkauft. Der Städte- und Gemeindebund hat bereits im August vor einer drohenden Obdachlosigkeit für Flüchtlinge in NRW gewarnt.
Unter den Geflüchteten sind zahlreiche Kranke, ältere Menschen, Kinder oder Schwangere, die besonderen Schutz benötigen. Viele Menschen sind aufgrund einer langen und strapaziösen Flucht sowie der belastenden Ereignisse in ihren Herkunftsländern körperlich und seelisch erschöpft. Sie sind damit weniger widerstandsfähig gegenüber den Strapazen einer Obdachlosigkeit bzw. einer Unterbringung in ungeeigneten Massenunterkünften oder Zelten, gerade im Winter. Ein rücksichtsloses Abhalten der Flüchtlinge an Europas Außen- oder Binnengrenzen löst dieses Problem nicht, sondern verlagert es nur in die unübersichtlichen Grenzregionen und missachtet die Menschenrechte der Geflohenen. Die sich verschlechternden winterlichen Wetterbedingungen auf der Fluchtroute verschärfen dieses Problem.
II. Genügend Wohnraum für alle vorhanden
Dabei muss im Grunde ausreichend Platz in Deutschland für Flüchtlinge vorhanden sein: Die Bevölkerungszahl Deutschlands lag laut statistischem Bundesamt noch vor 10 Jahren um über 1,3 Millionen über der heutigen Zahl – auch damals gab es keine Massen-Obdachlosigkeit. Die Bevölkerung NRWs war laut Landesbetrieb für Information und Technik Nordrhein-Westfalen vor 10 Jahren um über 400.000 Personen größer. Laut einer im Juli vorgestellten Studie der Bertelsmann-Stiftung verliert NRW in den nächsten 15 Jahren 480.000 Einwohner, insbesondere auf dem Land.
Die Gesamtzahl der Auswanderer aus Deutschland liegt seit Jahren konstant im Bereich über 600.000 Menschen pro Jahr, 2014 sollen es über 900.000 Menschen gewesen sein. Aus Nordrhein-Westfalen sind 2014 über 180.000 Menschen ausgewandert. Selbst ohne Wohnungsneubau sollte es also rein rechnerisch möglich sein, jährlich eine gleiche Anzahl von Menschen neu unterzubringen – mit Wohnungsneubau sogar eine größere Zahl. Offensichtlich bleibt vorhandener Wohnraum ungenutzt und steht dem Wohnungsmarkt nicht zur Verfügung. Niemand müsste obdachlos sein.
III. Inanspruchnahme von Wohnraum bei Gefahr für öffentliche Ordnung
Wenn die öffentliche Ordnung in Gefahr ist – etwa durch drohende Obdachlosigkeit einer Vielzahl von Menschen aufgrund von fehlendem Wohnraum – verpflichtet das Ordnungs- und Polizeirecht der Bundesländer die Behörden zum Eingreifen. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hält eine Beschlagnahme von Wohnungen für diese Zwecke grundsätzlich für erlaubt. Er wird wie folgt zitiert: „In besonderen Fällen ist es schon nach geltendem Recht nicht ausgeschlossen, leerstehende Wohnungen für Flüchtlinge in Anspruch zu nehmen. Die Gesetze der Länder sehen solche sicherheitsrechtlichen Notstandseingriffe vor, um eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwehren, die nicht auf andere Weise abgewendet werden kann. Der Eigentümer ist allerdings in vollem Umfang zu entschädigen. Es wäre in der Regel die verkehrsübliche Miete zu erstatten.“ Papier warnte gleichwohl auch, diese Maßnahmen nicht überzustrapazieren: „Ein solches Vorgehen sollten sich die staatlichen Stellen gut überlegen. Die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung könnte rasant auf null sinken.“ Für die Akzeptanz einer solchen Maßnahme ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Behörden mit dem gleichen Einsatz um alle Obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen kümmern müssen, die bereits in Deutschland leben – ungeachtet ihrer Herkunft oder Nationalität.
Die Bundesländer Hamburg und Bremen sehen Änderungen in ihren Ordnungsgesetzen vor, um solche Maßnahmen zu erleichtern. Hier ist es bereits zu ersten Beschlagnahmungen von Immobilien gekommen. Nordrhein-Westfalen sollte ebenfalls prüfen, ob das bestehende Landesrecht ausreicht, um im Bedarfsfall ohne besondere Verfahrenshindernisse leerstehenden Wohnraum durch Land oder Kommunen zügig in Anspruch nehmen zu können, auch wenn die Zustimmung der Eigentümer nicht vorliegt. Gegebenenfalls sollte die Rechtslage nach Hamburger Vorbild erleichtert und geklärt werden. Alle Arten von Immobilien sollten in Anspruch genommen werden können, die eine zügige Unterbringung von Geflüchteten tatsächlich ermöglichen. Auch sollte ausdrücklich ermöglicht sein, für eine gewerbliche Nutzung bestimmte Immobilien in Anspruch zu nehmen, wenn sie geeignet sind. Teilflächen und Gebäudeteile sollten ebenfalls davon umfasst sein. Damit erhalten Land und Kommunen eine zusätzliche Handlungsoption, um die gegenwärtige Notsituation zu bewältigen.
Es ist allerdings klarzustellen, dass diese Möglichkeit nur in absoluten Ausnahmefällen in Betracht kommt. Keineswegs sollen das Land oder die Kommunen von ihrer Pflicht entbunden sein, zuvor alles zu versuchen, um auf anderem Wege ausreichend angemessenen Wohnraum bereitzustellen. Auch kann eine Inanspruchnahme gegen den Willen der Eigentümer niemals eine Dauerlösung sein, sondern muss von vornherein befristet werden, und die Eigentümer müssen auf Antrag ortsüblich vergleichbar entschädigt werden. Eine eventuelle Erleichterung oder Klarstellung im Gesetz sollte von vornherein nur auf maximal zwei Jahre befristet sein, und dann von selbst wieder außer Kraft treten. Diese Zeit sollte dann genutzt werden, um den Wohnungsneubau und die Umwidmung von Leerstand zu Wohnungen voranzutreiben.
Eventueller Widerspruch der Eigentümer sollte die Nutzung nicht aufschieben dürfen, da sonst der Zweck der kurzfristigen Entlastung verfehlt wird: Ohne Anordnung des gesetzlichen Sofortvollzugs würde die gefahrenrechtliche Maßnahme ins Leere laufen. Alleine durch Zeitablauf beim Ausschöpfen des Rechtsweges würde der Erfolg des Gesetzes bereits faktisch vereitelt werden. Umgehungen der Inanspruchnahme, etwa durch vorgeschobene Überlassungsverträge, ohne dass eine tatsächliche Nutzung erfolgt, sollten ebenfalls verhindert werden: Eine Nutzung zu anderen als zu Wohnzwecken, die ausschließlich oder weit überwiegend den Zweck verfolgt, eine Inanspruchnahme durch Land oder die Kommunen zu vereiteln, soll nicht möglich sein.
IV. Flüchtlinge nicht gegen andere Gruppen ausspielen
Im nordrhein-westfälischen Nieheim hat die Stadtverwaltung langjährigen Mietern eines Wohnhauses wegen „Eigenbedarfs“ gekündigt, um dort Flüchtlinge einzuquartieren. Damit allerdings hat sie den Bogen überspannt: Mieter auf die Straße zu setzen kann nicht die Lösung des Problems sein, wie man geflüchtete Menschen unterbringt. Es darf nicht die eine Gruppe gegen die andere ausgespielt werden, solche Versuche sind zu verurteilen. Die Nutzung des vorhandenen Wohnungsleerstands mit allen gebotenen Mitteln ist auf jeden Fall zu bevorzugen. Es zeigt jedoch, wie beansprucht die Kommunen in unserem Land bereits sind.
Selbstverständlich dürfen das Land und die Kommunen auch keine anderen Personen schutzlos in Obdachlosigkeit belassen, gleichgültig, ob es sich um geflüchtete Menschen handelt, die neu zu uns kommen, oder um andere Menschen, die bereits in unserem Land leben. Langfristig bedarf es eines ehrgeiziges Wohnungsbau- und Sozialprogrammes für alle Menschen in unserem Land ungeachtet ihrer Herkunft, die derartige Unterstützung benötigen. Nur so lässt sich die weitere Zunahme von Extremismus und Rassismus verhindern und Integration auch konkret im Alltag bewerkstelligen. Ebenso muss die konkrete Verantwortung für Fluchtursachen übernommen werden. Export von Kriegs- und Repressionsinstrumenten in solche Gebiete muss unterlassen werden.
V. Der Landtag soll folgendes feststellen:
- Flüchtlinge sind willkommen in unserem Land. Forderungen nach Obergrenzen für die Aufnahme geflüchteter Menschen unter Missachtung des individuellen Rechts auf Asyl und den humanitären Geboten der Menschenwürde erteilen wir eine klare Absage.
- Ein Aufhalten der Flüchtlinge an Europas Außen- oder Binnengrenzen löst das Problem ihrer Unterbringung nicht, sondern verlagert es lediglich in diese Grenzregionen.
- Es ist nicht davon auszugehen, dass die Zahlen schutzsuchender Menschen kurzfristig wieder abnehmen, solange die Fluchtursachen unverändert weiterbestehen. Wir müssen uns auf weitere Zuwanderung einstellen.
- Das rechtliche Handlungsinstrumentarium zur Bewältigung der Unterbringung einer großen Zahl von Flüchtlingen durch Land und Kommunen muss der Herausforderung entsprechen und notfalls erweitert werden.
- Land und Kommunen sind weiterhin gefordert, alles zu unternehmen, um ausreichend angemessenen Wohnraum zu schaffen und bereitzustellen. Um Obdachlosigkeit zu vermeiden, muss als allerletzte Option möglich sein, leerstehenden Wohnraum auch ohne Zustimmung der Eigentümer in Anspruch zu nehmen. Von dieser Maßnahme muss im Notfall Gebrauch gemacht werden.
- Eine langfristige Lösung kann nur in einem ehrgeizigem Wohnungs- und Sozialprogramm liegen zugunsten aller Menschen in unserem Land, die dieser Hilfe bedürfen, sowie in der Übernahme von Verantwortung für die Bekämpfung der Fluchtursachen.
VI. Der Landtag soll die Landesregierung auffordern,
- zu prüfen, ob das bestehende Ordnungs- und Polizeirecht des Landes im Notfall eine ausreichend unkomplizierte Inanspruchnahme von leerstehendem Wohnraum ohne besondere Verfahrenshindernisse durch Land bzw. Kommunen zur Abwendung von Obdachlosigkeit ermöglicht;
- das Parlament über das Ergebnis dieser Prüfungen zeitnah zu informieren;
- ggf. eine Konkretisierung bzw. Änderung des Rechts nach Hamburger Vorbild vorzunehmen.
- Eine Änderung des Rechts ist auf maximal 2 Jahre zu befristen;
- für die Eigentümer ist eine Entschädigung auf Antrag in Form ortsüblicher, vergleichbarer Mietzahlung vorzusehen;
- sie ist so zu gestalten, dass ein Widerspruch der Eigentümer auf die Unterbringung keine aufschiebende Wirkung hat, damit der kurzfristig entlastende Effekt nicht faktisch vereitelt werden kann;
- es ist klarzustellen, dass alle Immobilien und Flächen, Immobilienteile und Teilflächen ungeachtet ihres ursprünglichen Zwecks in Anspruch genommen werden können, wenn sie sich für die Unterbringung tatsächlich eignen;
- Nutzungen, deren Sinn alleine oder ganz überwiegend darin besteht, die Inanspruchnahme durch Land oder Kommunen zu verhindern, sollen nicht zugelassen werden.